Eingangsbereich des Bauhaus-Museums
Richard, Max
Thomas-Mann-Gymnasium Oschatz
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Oskar Schlemmer - "Not"

Oskar Schlemmer wurde 1920 von Walter Gropius ans Weimarer Bauhaus berufen. Dort leitete er die Werkstatt für Wandbildmalerei, später die der Holz- und Steinbildhauerei. Die Lithografie "Not" von Schlemmer aus dem Jahre 1922 scheint zuerst ein Wirrwar willkürlich verteilter, geschwungener Linien zu sein.  Doch nach näherem Betrachten öffnen sich völlig neue Perspektiven, die zu unterschiedlichsten Interpretationsmöglichkeiten führen. Das scheinbar Chaotische birgt eine innere Struktur, eine in sich sehr komplexe Ästhetik. Uns zeigten sich zuerst sowohl verschiedene Gesichter im Profil als auch Formumrisse weiblich elegant anmutender Körper. Beim genaueren Hinsehen eröffnen sich noch vielfältigere Details, auf welche wir im späteren Verlauf genauer eingehen möchten. Dies stellt auch den Grund dar, der uns zur Auseinandersetzung mit diesem Kunstwerk bewegte. Im Bezug zum Titel des Bildes "Not" ergibt sich für die Interpretation, dass wahrscheinlich soziale und individuelle Konfliktsituationen dargestellt sind.

"Not" als Gesellschaftsbild

Die ineinander verwobenen Linien ergeben ineinander fließende Körper und Gesichtsprofile. Die Gesichter sind ohne Körper, die Körper ohne Gesicht. Daraus ergibt sich der Kontrast zwischen den gesichtslosen Körpern, welche die Gesellschaft und das Kollektiv verdeutlichen, und den Gesichtern, welche womöglich für das Individuum stehen. Durch das Verschmelzen dieser Formen ergibt sich ein in sich geschlossenes und widersprüchliches Gegenbild: die Realität der gesichtslosen "vermassten" Gesellschaft und den unvollkommenen Individuen in dieser. So sind Letztere im Profil dargestellt, der Betrachter sieht also nur ein halbes Gesicht, ein "halbes Ich".

Bezug zum Krieg

Untergliedert man das Bild in eine linke und rechte Hälfte, so vermag man auf der rechten Seite zwei Gesichter im Profil zu erkennen und eben so den Torso eines Menschen.   Zeigt der Torso vielleicht einen Soldaten des Ersten Weltkrieges? Womöglich, denn das Gesicht scheint eine Gasmaske zu tragen, wie sie im Ersten Weltkrieg getragen wurde, und symbolisiert die neue Kriegsführung. Das in die Schützengräben geleitete Giftgas verursachte in kürzester Zeit vielen Menschen einen schmerzhaften Tod. Die Gasmaske symbolisiert somit eine bisher nicht bekannte Grausamkeit der modernen technisierten Kriegsführung. Gleichsam anonymisiert die Maske den Menschen und verdeutlicht vielleicht auch die Disziplinierung und dem damit einhergehenden Verlust der Individualität.

Die beiden Gesichter im Profil scheinen zu weinen, symbolisiert durch die geraden Striche, die von den Augen der Gesichter nach unten verlaufen. Die Tränen symbolisieren die Trauer über die Grausamkeit.

Schlemmer wählte ohne Zweifel bewusst die rechte Seite des Bildes für diese Darstellung. Damit übt er Kritik an den Verhältnissen vor der Zeit der Weimarer Republik, am Militarismus, der Disziplinierung des Kaiserreichs und den immer noch vorhandenen breiten reaktionären Bewegung in der neuen deutschen Republik.

Einheit und Familie

Die linke Seite von "Not" scheint das Idealbild Schlemmers darzustellen. Auf den ersten Blick wirkt die dargestellte Person etwas abstrakt. Wenn man sie untergliedert, kann man jedoch einen kleineren Mann, symbolisiert durch den kräftigen Bauch erkennen, der schützend die Arme erhebt. Eben so eine größere Frau mit breiten Hüften und breiterem Brustbereich, welcher gleichsam auch die Arme des Mannes darstellt. Kombiniert man die Köpfe des Mannes und der Frau, so ließe sich unter Umständen ein Kind erkennen als Symbiose von Mann und Frau, als Vervollkommnung der Gedanken. Die hervorgehobenen Ideale sind die Einheit der Familie, die enge Bindung der Familienmitglieder und die Zukunft, symbolisiert durch das Kind. Diese weist durch das Verschmelzen von Gedanken auf die Hoffnung auf eine bessere Zeit in Zukunft hin.

Statik und Bewegung

Im Bild verschmelzen bewegte und statische Formen.  Die Statik wird hervorgerufen durch den Verlauf der Linien von oben nach unten beziehungsweise von links nach rechts. Dies wird unterstützt durch teilweise eingebrachte senkrechte Linien. Die Bewegung, hervorgerufen durch die geschwungenen Linien, stört diese Statik, sie treten in Kontrast. Jedoch wirkt das Bild trotz des Gegensatzes im Ganzen harmonisch und abgestimmt, besonders durch die Anordnung der Formen. Als Beispiel hierfür soll der weiblich anmutende Körper gelten, der kurz über der Bildmitte liegt und dessen Kopf mit dem rechten Rand abschließt.

Weitere Interpretationsansätze

Eine weitere Frage, die wir uns stellten, wäre zum Beispiel: Warum lassen sich vor allem weibliche Körper finden? Misst er ihnen eine gewisse Bedeutung innerhalb des Gesamtbedeutung zu? So ist das Bild doch senkrecht und waagerecht durch weibliche Körper in der Mitte sowohl getrennt als auch vereint, da sie doch die Bildelemente miteinander verbinden. Wählte er die Frauen ihres Rollenbildes wegen oder lediglich aufgrund ihrer geschwungenen Formen?